Die Sonntagspredigt vom 6. Oktober 1997

Arthur Heilmann (Theologe):

Identitäten

Liebe Freunde,

Was ist eine Identität? Eine Rolle, die wir spielen? Eine Maske, die wir aufsetzen? Oder die Summe aller Eigenschaften und Merkmale, durch die wir uns definieren?
Wir sind erfolgreiche Geschäftsleute, begnadete Künstler, gute Mütter, zweifelnde Philosophen, gemeine Gangster, gefährliche Terroristen, totale Versager usw. Diese Liste läßt sich beliebig erweitern, es macht sogar Spaß. Eine Freundin erzählte, wie sie mit blonder Perücke ihren Ehemann verführte. Das war sehr aufregend. Wieviel macht ein Faschingshut aus oder eine Pappnase? Wir sind ausgelassen wir dürfen unsere Identität verlassen und in eine andere Haut schlüpfen, für bestimmte Zeit. Welch ein Vergnügen! Oder fühlen wir uns lächerlich, weil wir unsere Identität, die wir sorgfältig gehütet haben, preisgeben? Wir sind schön und elegant. Jetzt dürfen wir niemals hässlich und schlampig sein. Oje! Was verlieren wir? Uns selbst?
Gerne benennen wir andere mit solchen >Identitäten<: eklige Skinheads, labile Muttersöhne, protzige Psychopaten, spießige Beamte, dumme Blondinen....
Wer gibt uns diese Identitäten? Wir ziehen sie den anderen an. Sie ziehen sie uns an. Wir ziehen sie uns selbst an wie eine Strumpfhose, oder eine Haut, die wir an uns festnähen. Das Festnähen tut schon weh an sich, aber was passiert, wenn wir wachsen, größer oder breiter werden? Die Identitätshaut droht zu platzen, die Nähte sind zum Zerreißen gespannt, die Haut wird brüchig und porös, es gibt Lücken und Risse. Es wird immer komplizierter und anstrengender, uns in dieser Haut zu halten.
Wie einfach haben es da die Schlangen! Sie häuten sich. Laßt es uns Ihnen gleichtun, und uns selbst aus der alten, zu engen Haut herausschälen!
Identität hat etwas mit einer Idee zu tun, mit Energie und mit einem Gedanken, einem Glaubenssystem, einer Überzeugung, die wir daran hängen wie ein Etikett. Der Tote, der ein Etikett am Fuß hat...  Die Leiche wurde identifiziert... Die Irren nehmen Identitäten an, von denen sie sich nicht lösen wollen oder können...
Eine Identität ist eine Selbst-Idee, die mit Energie versorgt wird, ein Selbst-Konzept aufgrund von Mustern, Gefühlen und Widerständen, die wir in uns tragen und an andere verteilen. Auch an uns selbst. Andere laden uns ein, ihnen Identitäten überzustülpen wie ein Kleidungsstück. Wir selbst laden uns dazu ein, uns diese Kleider oder Häute von Identitäten zuzulegen. Sie sollen uns abgrenzen und schützen vor der Welt und ihren unbekannten Gefahren. Wir wollen nicht DAS sein, und nicht DER sein, aber wir sind DIESER oder JENER. Wer oder was sind wir wirklich?
Eine Identität ist nicht was wir sind, sondern eine Rolle, die wir uns geben: Eva ist so brav. Was ist, wenn sie mal nicht brav ist? Ist sie dann nicht mehr Eva? Wer ist sie dann? Edith ist Frisöse. Was ist, wenn sie nicht mehr Frisöse ist, sondern Musikerin oder Hure oder Nonne oder Ärztin?
Laßt uns die Frage >wer oder was bin ich wirklich?< umstellen. Wer oder was wollen wir wirklich sein? Eine Identität kann ein Spiel sein, wenn wir es selbst bestimmen, und  wir der Regisseur sind in unserem Theater. Am Schluß fällt der Vorhang, der Schauspieler erscheint als er selbst, wir klatschen Beifall. Laßt uns uns selbst Beifall klatschen für unsere Rollen, unsere Identitäten. Laßt uns abgediente Häute liebevoll abstreifen und unsere neue weitere Haut begrüßen! Laßt uns als die, die wir sein wollen, unsere Welt begrüßen, und zeigt Euch diese Welt. Je mehr Häute wir ablegen, desto weiter wird unsere Welt. Je mehr Konzepte von uns und anderen wir fallenlassen, desto klarer und einfacher und direkter wird unser Selbst. Wenn wir unser Selbst immer weiter ausdehnen, sind wir fähig, andere immer mehr mit-hineinzunehmen.