Arthur Heilmann (Theologe):
Ein neuer Standpunkt
Stellt Euch vor, Ihr seid mit mehreren Passagieren in
einem Abteil. Alle sitzen still da, manche lesen Zeitung, andere gehen
ihren Gedanken nach. Die Stimmung ist ruhig und friedlich. Dann steigt
eine Frau mit ihren Kindern ein. Die Szene ändert sich sofort. Die
Kinder sind laut, sie rennen herum, sie schreien und stören die Fahrgäste.
Die Mutter setzt sich in eine Ecke und schließt die Augen. Sie scheint
überhaupt nicht zu ragieren auf diese Situation. Ihr seid irritiert
und verärgert. Diese Frau übernimmt wohl wirklich keine Verantwortung
. Die anderen im Abteil werden unruhig und die Stimmung ist ziemlich gespannt.
Ihr wollt geduldig sein und sprecht sie schließlich an: Ihre Kinder
stören! - Sie öffnet die Augen wie zum allerersten Mal
und sagt leise: - natürlich, ich sollte etwas dagegen tun. Wir kommen
gerade aus dem Krankenhaus, ihr Vater ist heute gestorben. Ich weiß
nicht, was ich denken soll, und die Kinder wissen vermutlich auch nicht,
wie sie damit umgehen sollen.
Was empfinden wir in diesem Moment? Plötzlich sehen
wir die Dinge anders. Und da wir sie anders sehen, empfinden wir sie anders.
Unser Ärger löst sich in Luft auf. Wir sind mit Sympathie und
Mitgefühl bei dieser Frau. Unser Standpunkt hat sich radikal verändert.
Wir verstehen und akzeptieren. Wir haben Einblick in ein größeres
Bild. Unser Horizont ist ein Stück weiter geworden.
Wenn wir uns auf bestimmte Standpunkte festlegen, uns
mit ihnen identifizieren und unbedingt an ihnen festhalten, begrenzen wir
dadurch unsere Fähigkeit, neue Dinge zu lernen, andere Menschen zu
verstehen oder Probleme zu lösen. Wir gehen durch die Welt mit einer
unsichtbaren Fessel an unseren Füßen. Unser Standpunkt, unsere
feste Meinung, hat längst begonnen mit uns sein Spiel zu treiben,
anstatt daß wir es sind, die damit spielen.
Laßt uns eine Expedition unternehmen und andere
Standpunkte erforschen! Laßt uns eine Zeit lang die Welt mit den
Augen eines anderen betrachten und fühlen wie sich diese Welt
von hier aus anfühlt!
Die Erfahrung anderer, neuer Standpunkte macht unseren
Blick frei auf das GANZE BILD, auf das, was uns ALLE verbindet.