Die Sonntagspredigt vom 14. September 1997

Arthur Heilmann (Theologe):

Ein neuer Standpunkt

Alles was er sah und hörte, schien nur neue Riegel in
ihm wegzuschieben und neue Fenster ihm zu öffnen Novalis
Liebe Freunde,
Was könnte die Idee, daß unsere Erfahrungen sich ändern, wenn wir unseren Standpunkt ändern, für uns bedeuten?
Wir alle haben vielleicht einmal einen Menschen getroffen, dessen Standpunkt vollkommen anders war, als der unsrige. Und wir standen da, verblüfft und erstaunt über diese ganz neue, ganz andere Sichtweise dieses Menschen. Wir standen sogar außerhalb unserer sonstigen Bewertungen und Einordnungen in diesem Moment. Als wären wir  eher Beobachter als Teilnehmer. Wir  hatten einen Geistesblitz, eine Erkenntnis, wir fühlten auch Bewunderung für dieses Neue, Andere.
Ich möchte Euch jetzt auf eine U - Bahnfahrt einladen:

Stellt Euch vor, Ihr seid mit mehreren Passagieren in einem Abteil. Alle sitzen still da, manche lesen Zeitung, andere gehen ihren Gedanken nach. Die Stimmung ist ruhig und friedlich. Dann steigt eine Frau mit ihren Kindern ein. Die Szene ändert sich sofort. Die Kinder sind laut, sie rennen herum, sie schreien und stören die Fahrgäste. Die Mutter setzt sich in eine Ecke und schließt die Augen. Sie scheint überhaupt nicht zu ragieren auf diese Situation. Ihr seid irritiert und verärgert. Diese Frau übernimmt wohl wirklich keine Verantwortung . Die anderen im Abteil werden unruhig und die Stimmung ist ziemlich gespannt. Ihr wollt geduldig sein und sprecht sie schließlich an: Ihre Kinder stören!  - Sie öffnet die Augen wie zum allerersten Mal und sagt leise: - natürlich, ich sollte etwas dagegen tun. Wir kommen gerade aus dem Krankenhaus, ihr Vater ist heute gestorben. Ich weiß nicht, was ich denken soll, und die Kinder wissen vermutlich auch nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Was empfinden wir in diesem Moment? Plötzlich sehen wir die Dinge anders. Und da wir sie anders sehen, empfinden wir sie anders. Unser Ärger löst sich in Luft auf. Wir sind mit Sympathie und Mitgefühl bei dieser Frau. Unser Standpunkt hat sich radikal verändert. Wir verstehen und akzeptieren. Wir haben Einblick in ein größeres Bild. Unser Horizont ist ein Stück weiter geworden.
Wenn wir uns auf bestimmte Standpunkte festlegen, uns mit ihnen identifizieren und unbedingt an ihnen festhalten, begrenzen wir dadurch unsere Fähigkeit, neue Dinge zu lernen, andere Menschen zu verstehen oder Probleme zu lösen. Wir gehen durch die Welt mit einer unsichtbaren Fessel an unseren Füßen. Unser Standpunkt, unsere feste Meinung, hat längst begonnen mit uns sein Spiel zu treiben, anstatt daß wir es sind, die damit spielen.
Laßt uns eine Expedition unternehmen und andere Standpunkte erforschen! Laßt uns eine Zeit lang die Welt mit den Augen eines anderen betrachten und fühlen wie  sich diese Welt von hier aus anfühlt!
Die Erfahrung anderer, neuer Standpunkte macht unseren Blick frei auf das GANZE BILD, auf das, was uns ALLE verbindet.