Die Sonntagspredigt vom 14. Dezember 1997
Arthur Heilmann (Theologe):
Krankheit
Ich sagte, die gesunde Person halte ausreichende Strategien der Normalität aufrecht, um nicht als verrückt der Beschädigung zu verfallen. Gesundsein aber ist ein viel zu gefährliches Sein, denn die Taktiken des Überlebens sind gleichzeitig die Mittel, mit denen wir uns zunehmend selbst zerstören. (David Cooper/Anti-Psychiatrie)
Das Ideal einer vollkommenen Gesundheit ist bloß wissenschaftlich interessant. Krankheit gehört zur Individualisierung. (Novalis)
Liebe Freunde,
Wenn wir krank sind, wollen wir möglichst schnell gesund sein. Das Kranksein ist nicht schön. Egal ob es sich um eine einfache Grippe oder um eine sogenannte Todeskrankheit handelt. Wer krank ist, ist anders. Der Kranke benimmt sich anders als der Gesunde. Der Kranke lebt anders, hat andere Ziele, andere Prioritäten. Er ißt andere Speisen, nämlich Krankenkost, er hat andere Vorlieben, nämlich müßigere, er hat andere Launen, Gefühle, Gesprächsinhalte und Sehnsüchte als der Gesunde. Der Kranke hofft meistens auf baldige Genesung, während der Gesunde kaum an das Kranksein denkt, es sei denn er ist ein Hypochonder.
Der Kranke ist nicht effizient. Er macht seine Arbeit nicht. Er nimmt nicht am normalen Leben teil. Er muß umsorgt, gepflegt und versorgt werden. Er bringt nichts und nimmt alles. Er kostet Geld und verdient keines. Er riecht schlecht und steckt uns an. Noch dazu ist er selbst schuld an seiner Krankheit. Wenn er nicht krank sein wollte, dann wäre er es nicht. Das ist psychologisch klar unter uns Gesunden. Der Wille zur Krankheit hat den Willen zur Gesundheit zersetzt und niedergebügelt. Der Kranke widersetzt sich dem sozialen Gefüge und stört es empfindlich. Er sagt zwar, er will gesund sein, aber offensichtlich ist, daß er krank ist und vermutlich krank sein will.
Diese Meinung, verknappt und verschärft, findet sich sowohl unter uns Gesunden als auch unter uns Kranken. Wir fragen uns. Ist der Gesunde der Normale und der Kranke der Außenseiter? Ist der Gesunde der Richtige und der Kranke der Falsche? Ist der Gesunde der Gute und der Kranke der Schlechte?
Krankheiten, besonders langwierige, sind Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemütsbildung. Man muß sie durch tägliche Bemerkungen zu benutzen suchen.(Novalis)
Im Krankenhaus sind die Kranken unter sich. Außer den Ärzten und Schwestern, die eine Phalanx bilden gegen das Kranksein und die Kranken. Wer will schon in einem Krankenhaus sterben? Unter den Kranken wäre es vielleicht nicht schlimm. Aber unter diesen strotzenden Gesunden, den Ärzten und Schwestern, die sich als die Herren und Herrinnen aufspielen über unser Befinden und unsere hohen und höchsten Notlagen? Denen wir ausgeliefert sind wie Babies? Die wollen uns doch nur fertigmachen, niederspritzen, dem Leben entreißen um sich an uns zu bereichern, genau wie die Apotheker und die Pharmaindustrie. Alles Verbrecher und Geldhaie. Benehmen sich wie Götter und werden von der Gesellschaft verehrt wie Götzen.
Auch diese Gedanken kennen wir. Sind die Kranken paranoid? Sind sie verantwortungsscheu? Sind die Gesunden ignorant? Oder gar sadistisch? Welche sind nun die besseren Menschen? Welche die ärmeren? Die ehrlicheren? Die Kranken oder die Gesunden?
Ein Mädchen, das ich in einer psychiatrischen Institution kennenlernte, war als schizophren diagnostiziert worden, weil sie unter anderem den <Wahn> hatte, sie habe sich in eine hohe, sich rankende grüne Pflanze verwandelt, die jeden Tag der Sonne entgegen wuchs und drückte das durch sonderbare, langsame, sich windende Bewegungen ihres Körpers aus. Zuerst bewegte sie ihre Füße, die Bewegungen stiegen ihren Körper empor und endlich in ihre Arme, die sie über ihrem Kopf erhoben hatte. Eine Anti-Diagnose würde hier nicht ein objektivierendes Etikett aufklatschen, sondern ins Zentrum stellen, daß das Mädchen sich selbst klar würde darüber, wie sie sich fühlte, zusammen mit ihrem wunderbaren Tanz, dessen Zeuge der andere ist. Das Bedürfnis nach einem Zeugen ist bestimmt eines der tiefsten menschlichen Bedürfnisse.(David Cooper/Anti-Psychiatrie)
Jede Krankheit ist ein musikalisches Problem - die Heilung eine musikalische Auflösung. Je kürzer und dennoch vollständiger die Auflösung, desto größer das musikalische Talent des Arztes.(Novalis)