Die Sonntagspredigt vom 19. Oktober 1997
Arthur Heilmann (Theologe):
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht:
- · Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!"
( Nietzsche - Also sprach Zarathustra )
Sehnsucht
Liebe Freunde,
Ist die Sehnsucht eine Krankheit? Eine Lebenskrankheit? ...Ich sterbe vor Sehnsucht!...Oder eine Todeskrankheit?...Er hat diesen sehnsüchtigen Blick. Er bewegt sich wie ein lebendiger Toter...
Der Sehnsüchtige ist ein todkranker Lebender... „und kannst du von dem Unglücklichen, dessen Leben unter einer schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmählich abstirbt, kannst du von ihm verlangen, er solle durch einen Dolchstoß der Qual auf einmal ein Ende machen?" (Goethe - Die Leiden des jungenWerther)
Dann wäre die Sehnsucht eine Todessucht, genau wie die Drogensucht oder die Ruhmsucht. Sie führt nach langer Krankheit zum Tod. Der Sehnsüchtige geht an der Sehnsucht zugrunde, oder er „kriegt sich wieder ein" und wird „vernünftig".....Mein Bruder fährt Motorrad, wie ein Verrückter, als ob er in den Tod hineinfahren wollte, will der wirklich sterben?.....
Das Sehnen ist ein traumwandlerischer Bereich, der nur uns gehört , und das hier mit dem dort verbindet .....Wir haben die langen Sommertage sehnsüchtig, im Liegen, auf der Veranda verbracht.Träumten vom schönen Leben, von wunderbaren Menschen.....Er spielte den Sehnsuchtswalzer am Klavier und mir kamen die Tränen.... So lange, lange Zeit vermisse ich Dich und sehne mich nach Deiner Haut, Deinen Fingerspitzen.....
Im Liebessehnen bricht etwas auf, ohne Ziel."...Blick ich dich ganz flüchtig nur an, die Stimme/stirbt, eh sie laut ward,/ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal/ läuft mir Fieber unter der Haut entlang, und/ meine Augen weigern die Sicht, es über-/rauscht meine Ohren, - mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben/alle Glieder, fahler als trockenen Gräser/bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein/Aussehn..." (Sappho)
Die Sehnsucht ist ein Spannungszustand. Gespannt wie ein Flitzbogen mit bebender Sehne. Hier sein + dorthin wollen. Gleichzeitig. Die Traurigkeit, nicht dort zu sein, übereinanderkopiert mit dem Wissen und Wunsch hier zu sein. Wir sehnen uns nach Amerika, aber von hier aus. Wir sehnen uns nach Glück, aber vom Nicht - Glück aus. Wir sehnen uns nach Liebe, Schönheit, Erleuchtung, aber.....Das Sehnen ist ein widersprüchlicher Zustand, ein „süßes Brennen". Das Verlangen nach etwas Abwesenden und gleichzeitig nach etwas Anwesenden. Es bringt Absenz in die Präsenz...Das Gewicht/der Angst/Die Länge und Breite/der Liebe/Die Farbe/der Sehnsucht/im Schatten/und in der Sonne...(Erich Fried - Notwendige Fragen)
Die Sehnsucht ist gegen das Vergessen.... "Wie denn/soll ich vergessen,/daß Du mich liebtest,/und wie denn/dein Angesicht, sternüberströmt,/deine Stimme und ach,/deine Tränen..." (Dagmar Nick). Wenn wir uns sehnen, vergessen wir nicht. Die Sehnsucht verbindet das Mögliche mit dem Unmöglichen.....Mutter ist weit weg oder tot, aber durch die Sehnsucht bin ich mit ihr vereint..... Die Sehnsucht ist eine starke Kraft. Sie macht uns mutig und lebendig. Sie läßt uns durch verschlossene Türen gehen, und über hohe Mauern springen. Sie macht erfinderisch und phantasievoll. Sie ist ein Geheimnis. Sie will dorthin wo sie nicht ist. Sie will über Grenzen gehen und die, die sie vorfindet, erweitern. Sie will neue Erfahrungen und ist rein emotional. Sie ist das Verlangen im Widerspruch zu sich selbst und sie kennt keine Zufriedenheit. Im befriedigten Zustand erlahmt und erschlafft sie. Sie ist der Motor für das, was wir sein wollen.
Laßt uns nicht steckenbleiben im Streben nach reiner Bedürfniserfüllung, sondern die Kraft und Schönheit der Sehnsucht anerkennen, und sich von ihr in die Weite ziehen lassen, wie die Wolken am Himmel. Laßt uns sehnen nach allumfassender Weite und die sehnende Spannung als unseren Liebeswillen, unsere Liebeskraft, erkennen, die Berge versetzt und Wunder möglich macht.